Intendanten Stefan Raue
Raderberggürtel 40
50968 Köln
Programmbeschwerde zum Feature von Annette Wilms: „70 Jahre Bundesverfassungsgericht- Das letzte Wort hat Karlsruhe“
Sehr geehrter Herr Raue,
gegen das o.b. Feature vom 22. September 2021 erhebe ich Programmbeschwerde wegen Verstoßes gegen § 6 Absatz 1 des Staatsvertrags über die Körperschaft des öffentlichen Rechts ,,Deutschlandradio“. Diese Vorschrift besagt, dass das Deutschlandradio einen objektiven Überblick über das Weltgeschehen, insbesondere ein umfassendes Bild der deutschen Wirklichkeit vermitteln und dabei eine freie individuelle und öffentliche Meinungsbildung fördern soll.
In dem Gesamtbericht „Auftrag und Strukturoptimierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks“ beschreibt sich der DLF in seinem Selbstbild wie folgt:
Der streitgegenständliche Beitrag wird diesem Anspruch nur eingeschränkt gerecht. Zwar gibt er einen hervorragenden Überblick hinsichtlich der historischen und staatspolitischen Bedeutung der Institution Bundesverfassungsgericht (BVerfG), blendet aber kritische Fragen der Gegenwart größtenteils aus.„Deutschlandfunk, Deutschlandfunk Kultur und Deutschlandfunk Nova, die drei Programme von Deutschlandradio, leisten einen grundlegenden Beitrag für die Gesellschaft unseres Landes. Unsere Arbeit dient der Meinungsbildung und dem öffentlichen Diskurs, insbesondere in den Bereichen Politik, Kultur und Bildung. Damit erfüllt Deutschlandradio den staatsvertraglichen Auftrag, den die 16 Bundesländer ihm gegeben haben. Zu diesem Auftrag gehört eine umfassende Berichterstattung, die objektiv und ausgewogen sein soll. Unsere Angebote sollen Vielfalt und Bandbreite der bestehenden Ansichten und Auffassungen abbilden. Sie sollen alle gesellschaftlichen Gruppen zu Wort kommen
lassen und nicht nur der Meinung einer Mehrheit oder vermeintlicher Eliten Gehör verschaffen. Mit dieser Berichterstattung fördert Deutschlandradio das Funktionieren der Demokratie. (1)“
Dies gipfelt in dem Interview des amtierenden Bundesverfassungsgerichtspräsidenten Prof. Dr. Stephan Harbarth. Er war bis zu seiner Ernennung zum Verfassungsrichter stellvertretender Fraktionschef der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Seine Ernennung war höchst umstritten und gipfelte sogar darin, dass Kritiker aufgrund seiner vorhergehenden Beschäftigung seine Unabhängigkeit infrage stellten und Verfassungsbeschwerde einlegten. (2)
Hier hätte die Moderatorin ihn zumindest auf diese Problematik ansprechen müssen, wenn der § 6 Absatz 1 des Staatsvertrags über die Körperschaft des öffentlichen Rechts ,,Deutschlandradio“ in seinem Wesensgehalt insbesondere im Sinne der Staatsferne lebendig gelebt worden wäre. Es hätten sich umfangreiche kritische Fragen, auf die ich später noch eingehen werde, an den Verfassungsgerichtspräsidenten geradezu angeboten.
Vielmehr werden lediglich die zweifellos wichtigen Themen Gleichberechtigung und das Klimaschutzurteil ausführlich behandelt. Gerade dieses Urteil steht aber im Verdacht, dass sich das BVerfG „ein bisschen“ an die Stelle des Gesetzgebers gestellt hat und somit seinen eigentlichen Auftrag überdehnt haben könnte.
Insbesondere hätte Frau Willms Herrn Prof. Dr. Harbarth mit den kritischen Einschätzungen des Verfassungsrechtlers Uwe Volkmann konfrontieren können. Dazu hat es im DLF am 5.9.2021 ein sehr hörenswertes Interview gegeben, (3) in dem auch der Journalist, Jurist und ehemalige Richter Heribert Prantl mit den Worten, dass Verfassungsgericht sei „schon mal in besserer Verfassung gewesen“ zitiert wird.
Besonders irritierend ist auch der Umstand, dass die Redakteurin die Passivität des Gerichts im Rechtschutz während der Corona-Pandemie mit keiner Silbe kritisch angemahnt hat. Herr Harbarth hätte bei einer besser vorbereiteten Interviewerin durchaus mit dem Beitrag dienlichen Fragen konfrontiert werden könnten, wie z.B.:
• War das Fehlen einer ausreichenden gesetzlichen Grundlage für die Freiheitseinschränkungen über viele Monate hinweg gegebenenfalls ein verfassungswidriger Zustand?
• Warum hat das Bundesverfassungsgericht in dieser Zeit nicht einen einzigen Eilantrag zu den Grundrechtseinschränkungen angenommen?
• Wieso hat das BVerfG bei der Entscheidung zur Bundes-Notbremse verpasst, ein starkes Zeichen für die Freiheit zu setzen? Insbesondere im Hinblick auf den damit entstandenen Rechtsschutzverlust des Einzelnen?
• Wie ist die „Konferenz der Bundeskanzlerin mit den Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder“, die seit 2020 Maßnahmen nach dem Infektionsschutzgesetz (IfSG) zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie in Deutschland bundesweit zu koordinieren, aus verfassungsrechtlicher Sicht zu bewerten?
• Ist in weiten Teilen der erfolgten Coronamaßnahmen nicht das Übermaßverbot (4) verletzt worden?
Dem Beitrag fehlt außerdem auch eine kritische Betrachtung zu der immer weiterwachsenden Dominanz des Europäischen Gerichtshof (EuGH) gegenüber dem BVerfG. So legte sich vergangenes Jahr das BVerfG in seinem Urteil über ein Anleiheprogramm der Europäischen Zentralbank offen mit dem EuGH an. Die Beschlüsse der Notenbank seien kompetenzwidrig ergangen, entschieden die Karlsruher Richter mit ihrem 2020 verkündeten Urteil. (Az. 2 BvR 859/15 u.a.) Dieser Streit ist fundamental, weil er letztendlich in Zukunft die weitere Bedeutung des Bundesverfassungsgerichtes tangiert.
Da dieses Urteil noch unter der Verantwortung des vorherigen Präsidenten Prof. Voßkuhle ergangen ist, hätte sich geradezu die Frage nach der rechtlichen Einschätzung zu dieser Problematik durch Herrn Prof. Dr. Harbarth geradezu vor dem Hintergrund der ultra vires (5) -Thematik aufgedrängt.
Und zu guter Letzt hätte es auch der Souveränität einer öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt nicht geschadet, wenn sie sich kritisch mit dem Beschluss des Ersten Senats vom 20. Juli 2021 zur Staatsvertrag Rundfunkfinanzierung (6) mit dem verantwortlichen Verfassungsgerichtspräsidenten beschäftigt hätte. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass der Ministerpräsident Haseloff das Urteil dahingehend kritisiert hat, dass die Karlsruher Richter kein neues Verfahren für die Festlegung der Beitragshöhe vorgegeben hätten. So bleibe unklar, was passiert, wenn die KEF einen bestimmten Finanzbedarf ermittelt, den die Landtage dann nicht akzeptieren würden. Die Parlamente seien immerhin frei in ihrer Entscheidung.
„Das ist ein Demokratieproblem, was wir hier haben, das nicht aufgelöst ist.“(7)
Ein Bundesverfassungsgerichtspräsident, dem aufgrund seiner vorherigen Position als stellvertretender CDU/CSU-Fraktionschef von Kritikern eine gewisse Gewaltendiffusion vorgeworfen wird, hätte von einem öffentlich-rechtlichen Medium, das seinen Programmauftrag gewissenhaft ausführt, vor diesem Hintergrund deutlich kritischer und qualifizierter interviewt werden müssen.
Der vorliegende Beitrag wird in seiner Unterkomplexität dem würdevollen Gedenken an die 70 Jahre Bundesverfassungsgericht meiner Einschätzung nach überhaupt nicht gerecht.
Ich rege daher an, einen erneuten Beitrag zu gestalten, so dass Herr Prof. Dr. Harbarth zu den im Text aufgeführten Fragen Stellung nehmen kann.
Mit freundlichen Grüßen
Torsten Küllig
(1) https://www.deutschlandradio.de/index.m ... 72e02d.pdf Seite 5
(2) https://www.handelsblatt.com/politik/de ... tLmCEg-ap2
(3) https://www.deutschlandfunk.de/70-jahre ... _id=502674
(4) Übermaßverbot meint, dass eine gesetzliche Regelung oder eine andere Maßnahme der öffentlichen Gewalt zu
unterbleiben dann hat, wenn die aus ihr folgenden Nachteile für den Betroffenen außer Verhältnis zu dem beabsichtigten
Erfolg stehen. Dieser Begriff ist damit eine andere Bezeichnung der Angemessenheit. Es geht somit um die Zumutbarkeit
der Belastung, also um den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne.
(5) Nach der ultra-vires-Lehre sind Rechtsgeschäfte, die eine juristische Person des öffentlichen Rechts durch ihre Organe
außerhalb des durch Gesetz oder Satzung bestimmten Wirkungskreises der juristischen Person vornimmt, rechtsunwirksam.
(6) BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 20. Juli 2021- 1 BvR 2756/20 -, Rn. 1-119,
(7) https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/ ... 71618.html