ARD - Beschwerde zur Griechenlandberichterstattung der Tagesschau

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Maren
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ARD - Beschwerde zur Griechenlandberichterstattung der Tagesschau

Beitrag von Maren »

Berlin, den 10.07.2015


An den Intendanten des NDR
Herrn Lutz Marmor
Rothenbaumchaussee 132
20149 Hamburg


Betr.: Griechenlandberichterstattung der ARD Tagesschau, speziell vom 28.6.2015 und vom 7.7.2015

Sehr geehrter Herr Marmor,

ich wende mich jetzt an Sie als den - wie man mir mitteilte - für die Tagesschau zuständigen ARD-Intendanten, weil ich mich nunmehr zum zweiten Male innerhalb weniger Tage veranlasst sehe, heftige Kritik an der Griechenlandberichterstattung der Tagesschau zu äußern (siehe auch beigefügte Mail vom 28.6 an die Redaktion der Tagesschau).

Es ist das erste mal, dass ich das in dieser Form gerichtet an die oberste Stelle eines Senders tue.
Am 7. Juli musste ich erneut innerhalb weniger Tage Zeuge eines - es tut mir leid das so sagen zum müssen - "widerlichen" Beitrags in der Tagesschau sein. In diesem ließ die Tagesschau eine Rentnerin (und den ehemaligen Ministerpräsidenten) aus Lettland ausführlich zu Worte kommen. Die interviewte Rentnerin äußerte sinngemäß, sie hätte überhaupt kein Verständnis für die Griechen. Die Griechen müssten den Gürtel enger schnallen, wie sie (die Letten) es in der Finanzkrise auch hätten tun müssen. Dadurch ginge es ihnen inzwischen wieder besser, auch die Wirtschaft habe sich erholt.

Es ist schlimm, wie hier in der Nachfolge des Referendums weiterhin in der deutschen Bevölkerung Stimmung gegen Griechenland gemacht wird - anstatt ideologisch und im Ton abzurüsten - und wie hier die Armen Europas gegeneinander in Stellung gebracht werden.
Das Interview wurde sicher nicht zufällig zu diesem Zeitpunkt gesendet und ohne die Situation in Lettland, die eine ganz andere als in Griechenland war/ist in den erforderlichen Kontext zu stellen.

Hier vergleicht man wohl vorsätzlich Äpfel mit Birnen (Die Tagesschauredaktion weiß das sicher, so wenig Wirtschaftskompetenz möchte ich ihr nicht unterstellen).

Lassen sie mich das als Nichtökonom erläutern (hier geht es um Alltagswissen): Griechenland hat eine enorme Schuldenkrise - neben anderen strukturellen Problemen - (für die "die Griechen" wie die korrupten Vorgängerregierungen, Schwesterparteien von CDU und SPD, aber auch ausländische Banken und Gläubiger Verantwortung tragen ( siehe auch den guardian Beitrag unten). Lettland hatte m.W. keine Schuldenkrise, sondern litt unter einer primär durch die Finanzmarktkrise bedingten vorübergehende Rezession von 15 % (?).

Die Sparmaßnahmen waren in Lettland m.W. längst nicht so dramatisch wie in Griechenland. Vor allem aber: dort wirken sie auch jetzt nach 5 Jahren immer noch nicht. Von einer durch die Austeritätspolitik bedingten vergleichbaren humanitären Krise in Lettland ist mir nichts bekannt. ("Recession hurts, austerity kills" (so der renommierte britische Epidemiologe David Stuckler in seiner großen umfassenden Studie zur Austeritätspolitik im historischen und internationalen Vergleich). Diese humanitäre Krise und die entgegen allen IWF u.a. Prognosen erfolglosen bisherigen Sparprogramme sind die Gründe, warum die große Mehrheit der Griechen gegen alle Pressionen von außen und innen für ein Nein im Referendum stimmte. Auch wenn Sie möglicherweise zwischen Cholera und Pest zu wählen hatten.

Gegenüber Griechenland wird aus ideologischen Gründen die falsche Medizin praktiziert. Dies vertreten zahlreiche Ökonomen u.a. die US. Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz und Paul Krugman. Das räumt bereits 2013 der IWF und jetzt wieder, aber erst nach dem Referendum z.T. ein. Zur anderen Seite der Wahrheit gehört auch wie Picketty sagt, “Germany is the single best example of a country that, throughout its history, has never repaid its external debt”. Doppelt Moral nennt man so etwas. Über diese Zusammenhänge liest und sieht man in der BBC u.a. internationalen Medien, aber nicht bzw. kaum in der Tagesschau oder der ARD.

In der Tageschau herrscht eine extrem einseitige Berichterstattung zu Griechenland und den Ursache der Krise vor, die man nur als Meinungsmache, zuweilen sogar als „Hetze“ bezeichnen kann (z.B. die Entgleisung des ARD Brüssel Korrespondenten Wolf-Dieter Krause gegenüber der griechischen Regierung).

Leider schaue ich mir daher zu bestimmten Themen die Tagesschau nur noch an, um mitzubekommen, wie Manipulation und Meinungsmache funktioniert. Ich sage dies nicht mit einem Gefühl der Überheblichkeit und Häme, sondern weil es mich in Hinblick auf die Entwicklung unserer Demokratie und die Rolle der Medien dabei zutiefst beunruhigt.

An Tagesschau und auch den Tagesthem kann man exemplarisch die Mechanismen der Meinungsmanipulation studieren (das betrifft natürlich nicht Alles, aber viel mehr als sich m.E. ertragen lässt): Einseitigkeit, Halbwahrheiten, Fakten als Meinungen hinstellen, Fragmentierung, Dekontextualisierung, Verschweigen, Einengen des Meinungsspektrums auf den Mainstream etc.

Ich glaube, das einigermaßen beurteilen zu können, weil ich das Privileg habe, über Zeit, Sprachkenntnisse, Auslandserfahrung und die notwendige Bildung zu verfügen, die mich in die Lage versetzen, über den nationalen Tellerrand zu schauen und mich auch an internationalen Medien zu orientieren. Dort ist die Berichterstattung über Griechenland in vielen sog. Qualitätsmedien von Anfang an eine z.T. völlig andere: Viel neutraler, professioneller, kontroverser in der Meinungsvielfalt und ausgewogener; z.B. die BBC, die Financial Times und der guardian. Von einem derartigen Profil ist die ARD Tagesschau weit entfernt. Leider. Zum Schaden für die Demokratie und ein aufgeklärtes, freies, friedliches solidarisches Europa, das den Menschen dient und nicht den Märkten.

"Demokratie setzt eine aufgeklärte Öffentlichkeit voraus“, so Thomas Jefferson, einer der Gründungsväter der USA und Architekt ihrer Verfassung. Wie soll das aber funktionieren, wenn selbst der öffentliche Rundfunk, dessen primäre Aufgabe es ist, dazu beizutragen, Teil und nicht die Lösung dieses für die Demokratie so zentralen Problems ist?

Die Gründungsväter des vereinten Europas würden sich vermutlich im Grabe umdrehen, wenn sie mitbekämen, wohin sich Europa inzwischen entwickelt: es wird egoistischer, nationalistischer, weniger friedlich und solidarisch. Menschen unterschiedlicher Nationen werden in Europa jetzt wieder gegeneinander aufgehetzt und dadurch Feindschaft unter den Völkern erzeugt. Unsere Vision von Europa, ich bin Jahrgang1943, war damals eine andere.

Die Schärfe dieser Kritik mag meiner aktuellen Empörung über die Griechenland Berichterstattung entspringen. Grundsätzlich halte ich aber an ihr fest: es ließen sich viele weitere Beispiele anführen (Ukrainekonflikt (ich bin kein Putinanhänger, im Gegenteil), Arabellion, Flüchtlinge und, und, und.)

Keine schöne Aussichten, was Griechenland anbetrifft. Ich befürchte, man wird Griechenland vorsätzlich und mutwillig scheitern lassen. Und die ARD trägt mit ihrer Griechenland Berichterstattung dazu bei.

Ich habe den Link zum guardian Kommentar zu Griechenland nach dem Referendum beigefügt. Aus diesem ist ersichtlich, was nicht nur ich in der ARD Berichterstattung vermisse: den fehlenden anderen Teil der "Wahrheit".

Ich sehe Ihrer Antwort mit großer Erwartung entgegen.


Mit freundlichen Grüßen

XXXXXXXXX

P.S. Heute (10.07.) lese ich in der Zeitung, dass nicht nur Hollande, sondern fast ganz Frankreich (auch die Opposition) Griechenland bei einem Schuldenschnitt/-umstrukturierung entgegenkommen wolle; das gälte auch für den IWF, Tusk u.a. Länder. Es gäbe zudem in der französischen Bevölkerung eine große Sympathie für Griechenland, Merkel bleibe aber hart, nicht zuletzt auch im Hinblick auf die Stimmung in Deutschland. Falls Merkel nicht nachgäbe, läge die Verantwortung eines Grexit bei Ihr und Deutschland.



Anlage: meine Mail vom 26.07.2015
An die Tagesschau Redaktion !

ich kann mich nur mit Grauen - und das nicht zum ersten mal- von der Griechenlandberichterstattung der heutigen Tagesschau abwenden. Durchgehend "blame und shame" (allein die Griechen sind Schuld) und Meinungsmache und nur Kommenatoren (z.B. Fuest und Konrad Adenauer-Stiftung) zugeschaltet, die diese Deutungsmuster bestätigen.

Man hätte ja auch mal die US Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz und Paul Krugman zur Griechenlandkrise befragen können. (Krugman spricht z.B. von einem Austeritätswahn der Deutschen und er verstehe nicht, dass Schäuble nicht verstehe, dass ihn kaum einer sonst in der Welt verstehe (außer der ARD natürlich). Alle wissen, dass Griechenland nie seine Schulden wird zurückzahlen können, warum kommt man Ihnen dann nicht entgegen?

Bei der Banken war man sehr, sehr großzügig: die hunderte Milliarden Euro zu Ihrer Rettung sind immer noch nicht zurückbezahlt). Die Tagesschau ist mitunter meilenweit entfernt von dem, was man von einem seriösen, fundierten und neutralen professionellen Journalismus erwarten sollte! Sie ist allzuoft ein Instrument der Meinungsmache, anstatt das sie hilft, die Dinge einzuordnen und zu verstehen: unabdingbare Voraussetzung für eine politische Willensbildung und per Satzung auch Aufgabe des öffentlich rechtlichen Rundfunks.

Ich habe mir schon lange abgewöhnt, mich über die Tagesschau und Tagesthemen (oder TV) politisch zu bilden. (Es gibt rühmliche Ausnahmen im TV, vor allem bei 3 SAT und ARTE).

Um an einem konkreten Beispiel zu verdeutlichen, was ich meine: im the guardian online lese ich heute :

US pushes for discussion on Greek debt relief
The US Government has been watching events in the eurozone with growing alarm.
And it has now revealed that Treasury secretary Jack Lew spoke with the IMF, Germany and France on Saturday, and urged a resolution to keep Greece in the euro area.
Lew also told them that the issue of Greek debt relief must be discussed (as the IMF also argues)


Nichts davon in der Tagesschau. Es passt ja nicht ins voreingenommene Weltbild. Aber berichten hätte man darüber können. Es hätte gezeigt, dass nicht alle in der Welt die Schuld ausschließlich bei den faulen Griechen sehen, die permanent über ihre Verhältnisse leben, die nicht ihre Hausaufgaben machen (alles Worthülsen), unsere Geduld über alle Maßen strapazieren und ein kommunistisches Regime errichten wollen. (Das war von Beginn an eine Spezialität der mainstream Medien in Deutschland, die in anderen westlichen Leitmedien keine Entsprechung hatte, dort war die Berichterstattung ausgewogener, differenzierter).

Der Hintergrund der jetzt dramatischen Entwicklung nach meiner Vermutung (ja ich bin natürlich Verschwörungstheoretiker): Griechenland soll vor dem angekündigten Referendum destabilisiert werden. Ein deja vue ! Als Papandreou ein Referendum über das damalige Spardiktat der Troika (kein demokratisch gewähltes Gremium) abhalten wollte, war er im nu weg vom Fenster. Selbst ein Sturz der Regierung Tsipras durch die korrupten Vorgänger wird in der Tagesschau insinuiert. Man wünscht es und redet es herbei.

Schlimmer geht Meinungsmache kaum noch. Diese Art von Berichterstattung hilft nicht zu verstehen, was in der Welt passiert. Sie bedient den Stammtisch und gibt ihm Vorlagen und trägt so auch mit zur Politikverdrossenheit und Rechtspopulismus in Deutschland bei.

Mit noch vorzüglicher Hochachtung
xxxxxxx
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