"Die Hetze gegen alles Russische ist einer zivilisierten Gesellschaft unwürdig"
«Die deutschen ‹Eliten› haben sich von den alten menschlichen Werten schon lange verabschiedet»
Zeitgeschehen im Fokus Die EU- und Nato-Staaten wollen – bis auf wenige Ausnahmen – keinen Frieden. Sie rüsten auf und bereiten einen Krieg gegen Russland vor. Das ist ein Bruch des Völkerrechts. Was sagen Sie zu dieser Entwicklung?
Prof. Dr. Alfred de Zayas Die Haltung der Regierungen in Deutschland, Frankreich, Grossbritannien, Polen, Litauen, Lettland, Estland, Finnland und in anderen Nato-Ländern ist inkompatibel mit Artikel 2(3) und 2(4) der Uno-Charta und stellt eine «Bedrohung des Weltfriedens und internationalen Sicherheit» im Sinne des Artikels 39 der Uno-Charta dar.
Gemäss Artikel 103 der Charta, die als eine Art «Weltverfassung» gilt, besitzt die Charta Priorität über alle anderen Verträge – die der EU und Nato eingeschlossen. Darum sind alle Staaten verpflichtet, ihre Verträge und ihre Handlungen in Einklang mit der Uno-Charta zu bringen und alle internationalen Streitigkeiten mit friedlichen Mitteln zu lösen.
Hinzu kommt, dass jede Provokation, jede Eskalation eine «Androhung oder Anwendung von Gewalt» darstellt, die im Artikel 2(4) sowie in etlichen Resolutionen der Uno-Generalversammlung, unter anderem in den Resolutionen 2625 und 3314 untersagt ist. Wenn ein Krieg ausbricht, dann gilt eine Verpflichtung zu Friedensverhandlungen.
Die Haltung der Ukraine und der Nato-Staaten, die die Friedensverhandlungen vom März 2022 ablehnten und die Umsetzung des Kompromisses von Recep Tayyip Erdoğan vereitelten, tragen eine enorme Schuld für den Tod von vielleicht einer Million Menschen. Ihre kriegerische Haltung stellt eine Verletzung der Uno-Charta und auch der menschlichen Ethik dar.
Auch die Bürger Deutschlands und der anderen Nato-Staaten müssen verstehen, dass die Uno-Charta Vorrang vor dem Nato-Vertrag hat. Sie müssten auch verstehen, dass die Nato-Osterweiterung, der von den USA und der EU unterstützte Putsch vom Februar 2014 in der Ukraine und die systematische Verletzung der Minsker Abkommen durch die Ukraine die direkten Ursachen der russischen Invasion bilden. Leider wollen die Nato-Staaten dies bis heute nicht zugeben.
Sie wollen den Krieg sogar eskalieren, obwohl es absolut keine Chance gibt, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnen könnte. Ein Sieg der Ukraine (und der Nato) wäre zudem ungerecht und eine Verletzung des Selbstbestimmungsrechtes der russischen Mehrheiten im Donbas und auf der Krim.
Das bedauerliche Kiewer Treffen Selenskyjs am 10. Mai mit Keir Starmer, Emmanuel Macron, Friedrich Merz und Donald Tusk war von einer intransigenten Rhetorik geprägt und bewies noch einmal, dass sie nicht bereit sind, ihre eigene Schuld einzugestehen. Deutschland zeigte sich hier besonders bellizistisch. Die Rechthaberei der Scholz/Baerbock-Regierung kann unter Merz noch schlimmer werden.
Dennoch ist der Friede die absolute Priorität der Uno. Der Friede ist auch das Gebot des Evangeliums, und dies wurde etliche Male durch Papst Franziskus im Bezug auf die Ukraine wiederholt. Der neue Papst Leo XIV. hat sein Pontifikat eben mit dem Wort «Friede» begonnen.
Deutschland gehört wieder einmal zu den Kriegstreibern und forciert die Aufrüstung. Sie hatten immer ein positives Verhältnis zu Deutschland, haben dort studiert, promoviert, entscheidende Bücher über Aspekte der deutschen Geschichte wie zum Beispiel «Die Nemesis von Potsdam» geschrieben. Wie beobachten Sie die Veränderungen?
In den 70er- und Anfang der 80er Jahre konnte man in Deutschland seriöse Forschung betreiben. Mein Projekt «Wehrmacht-Untersuchungsstelle» am Institut für Völkerrecht der Universität Göttingen wurde seinerzeit sogar von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) finanziert und methodisch durch kompetente Berater unterstützt und begleitet.
Wir veranstalteten zwei internationale Tagungen – die eine in Göttingen mit zahlreichen auswärtigen Wissenschaftlern, die meisten Professoren und Archivare, und die zweite an der Universität Köln. Ich habe einen langen Schlussbericht für die DFG verfasst und in der 8. Ausgabe von Wehrmacht-Untersuchungsstelle erstveröffentlicht.
Der Bericht befindet sich auch auf meiner eigenen Website. Ein derartiges wissenschaftliches Unterfangen wäre heutzutage absolut undenkbar. Das Institut für Völkerrecht würde so etwas nicht wagen, und die DFG würde das Projekt sogar bekämpfen.
Ich habe nach wie vor ein positives Verhältnis zur deutschen Kultur, deutschen Musik und vor allem zur deutschen Literatur. Ich habe mehr als 120 Gedichte von Rainer Maria Rilke ins Englische übertragen (auch einige ins Französische und ins Spanische) und in einem erfolgreichen Buch in Amerika veröffentlicht, das sich einer zweiten ergänzten Ausgabe erfreut.
Kürzlich habe ich 220 Gedichte von Hermann Hesse übersetzt, die demnächst in Amerika erscheinen werden. Hinzu kommen meine Übersetzungen von Goethe, Eichendorff, Lenau, Miegel und so weiter. Ich liebe die deutsche Sprache, Musik, Kultur nach wie vor. Die heutigen Pseudo-Politiker in Berlin können mir meinen Genuss an der deutschen Kultur nicht verderben.
Warum gab es in den letzten drei Jahrzehnten diese negative Entwicklung?
Der Zeitgeist in Deutschland hat sich zum Totalitarismus verändert, und ich verstehe es auch nicht, denn der Zeitgeist in den 70er Jahren war ganz anders. Die Kriegsgeneration war noch am Leben, und sie hatte noch gewisse Werte, die inzwischen abhandengekommen sind.
Akademische Forschungsfreiheit existierte noch. Aber es begann schon mit Mobbing gegen unabhängige Forscher und deshalb wurde ich Mitglied des Bundes Freiheit der Wissenschaften. Als Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht habe ich bereits 1980 über die wachsenden Gefahren der Einschränkung der Meinungsfreiheit und für die Demokratie referiert.
Eine allmähliche geistige Zerstörung der deutschen Wissenschaft begann bereits Ende der 70er Jahre, die in dem sogenannten Historikerstreit der Jahre 1985 bis 1987 ihren Ausdruck fand. Auf der einen Seite standen Historiker in der Tradition Leopold von Rankes (Geschichtsschreibung «wie ist es eigentlich gewesen?») – unter anderem Andreas Hillgruber, Ernst Nolte, Hagen Schulze und Michael Stürmer.
Auf der anderen Seite waren die politisierten Historiker wie Hans-Ulrich Wehler, Jürgen Kocka, Hannes Heer und der Philosoph Jürgen Habermas. Ich selbst habe eine Reihe von Beiträgen zur Versachlichung der Auseinandersetzung geliefert, die unter anderem in der Zeitung Die Welt veröffentlicht wurden.
In der beschriebenen Entwicklung zeigte sich ganz deutlich die Verweigerung, unterschiedliche historische Erkenntnisse, Standpunkte und Perspektiven wissenschaftlich zu diskutieren und daraus eine Synthese zu formulieren, um so der Wahrheit näher zu kommen. Aber es ging vor allem um Ideologie und nicht um neutrale Forschung.
Das war nicht erwünscht. Bis heute konstatieren wir, dass in vielen Bereichen ein menschenrechtlicher und zivilisatorischer Rückschritt stattgefunden hat. Es gibt keine Meinungsfreiheit mehr, sondern Zensur, Angst, soziale Ausgrenzung und Selbst-Zensur.
Art. 19 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte (IPBPR) stipuliert:
(1) Jedermann hat das Recht auf unbehinderte Meinungsfreiheit.
(2) Jedermann hat das Recht auf freie Meinungsäusserung; dieses Recht schliesst die Freiheit ein, ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen, Informationen und Gedankengut jeder Art in Wort, Schrift oder Druck, durch Kunstwerke oder andere Mittel eigener Wahl sich zu beschaffen, zu empfangen und weiterzugeben.
Sie sprechen von einer allmählichen geistigen Zerstörung der Wissenschaften. Wo sehen Sie die Gründe für diese negative Entwicklung?
Die Regierenden sind nicht dieselben wie in den 70er und 80er Jahren. Wir haben es mit einer neuen politischen Klasse zu tun, die Opfer der Propaganda und Umerziehung ist. Die heutigen Politiker haben nicht dieselben Werte wie damals.
Anstand, Demut, Ehre, Ehrlichkeit, Integrität und Wahrheitsliebe sind nicht auf der Speisekarte. Überall beobachtet man ideologisierte Stellungnahmen oder einfachen Opportunismus und Karrierismus.
Für diese Politiker spielt das Wohl des deutschen Volkes keine Rolle mehr. Hinzu kommen die grossen Medien, die die offizielle Regierungspropaganda tragen. Es geht um eine Verdummung und Indoktrinierung des Volkes.
Manchmal fragt man sich bei vielen Politikern wie Merz, Baerbock, Faeser, Pistorius, Strack-Zimmermann und vielen mehr, bei denen man einen unverhohlenen Russenhass feststellen kann, ob sie irgendetwas aus der Geschichte gelernt haben oder die deutsche Geschichte überhaupt kennen.Wie sehen Sie das? Was hätte es gebraucht, um nicht hinter das Ende des Kalten Kriegs zurückzufallen?
Keiner von diesen Politikern hat irgendetwas aus der Geschichte gelernt. Aber dies ist allgemein so. Bereits im Jahre 1830 kommentierte Georg Wilhelm Hegel: «Was die Erfahrung, aber auch die Geschichte lehren, ist dieses, dass Völker und Regierungen niemals etwas aus der Geschichte gelernt und nach Lehren, die aus derselben zu ziehen gewesen wären, gehandelt haben.»
Man lernt auch nichts von völkerrechtlichen Verträgen. Wenn man weiss, dass Artikel 20 des Uno-Pakts über bürgerliche und politische Rechte (IPBPR) die Kriegspropaganda und die Aufstachelung zu Hass und Gewalt expressis verbis verbietet, liegt hier ein krasser Verstoss vor.
Diese Vertreter Deutschlands agieren gegen das Völkerrecht und gegen die internationale Moral, wenn sie «Hate Speech» gegen die Russen, gegen die russische Kultur, gegen russische Künstler betreiben. In Deutschland gibt es regelrechte Aufstachelung zum Hass gegen die Russen.
Deutsche Bürger, die damit nicht einverstanden sind, sollten sich an den Uno-Menschenrechtsausschuss wenden, deren Sekretär ich war. Als ehemaliger Chef der Petitionsabteilung im Büro des Uno-Hochkommissars für Menschenrechte, und in meinem Buch «United Nations Human Rights Committee Case Law»3 habe ich die Prozedur erklärt, wie man gegen Verletzungen des Paktes handeln soll.
In Deutschland gibt es Verletzungen vieler Artikel unter anderem 9, 14, 19, 20, 21, 22, 25, 26, aber es gibt nur wenige Klagen gegen Deutschland. Ich vermute, dass die Menschen die Prozedur nicht kennen.
Art. 20
(1) Jede Kriegspropaganda wird durch Gesetz verboten.
(2) Jedes Eintreten für nationalen, rassistischen oder religiösen Hass, durch das zu Diskriminierung, Feindseligkeit oder Gewalt aufgestachelt wird, wird durch Gesetz verboten.
In Deutschland hat man russische Sender verboten. Die Mainstream-Medien und die Politik haben einen antirussischen Tenor, der sich auf die allgemeine Stimmung auswirkt. Russen haben nach dem Beginn des Ukraine-Kriegs in einigen Ländern des Westens ihre Stellen verloren. Wie kann so Frieden in Europa geschaffen werden?
Die Hetze gegen alles Russische ist einer zivilisierten Gesellschaft unwürdig. Aber die deutschen «Eliten» haben sich von den alten menschlichen Werten schon sehr lange verabschiedet. Es bleiben nur leere Bekenntnisse zu den Menschenrechten und eine Hyper-Heuchelei.
Auf Englisch nenne ich das Phänomen eine Art «Himalayan Hypocrisy», Doppelmoral, Mangel an Respekt für die anderen, Mangel an Vernunft.
Diese Verbote von ausländischen Sendern erinnern uns an das Nazi-Verbot, BBC-Radio zu hören. Zweifelsohne bedeutet dies alles eine massive Verletzung des Artikels 19 des IPBPR, und deutsche Bürger sollten ihre Klagen an den Menschenrechtsausschuss schicken.
Dabei geht es nicht nur um die Verletzung der Meinungs- und Pressefreiheit von RT und Sputnik – es geht um unser Recht, zu wissen, was man nennt: «The right to know oder the right to truth», wie ich in meinen 14 Berichten an den Menschenrechtsrat und an die Uno-Generalversammlung bekräftigt habe.
Im Jahre 2011 hat der Menschenrechtsausschuss einen Kommentar zum Artikel 19 IPBPR veröffentlicht. Besonders einschlägig ist Absatz 49. Ich habe darüber einen langen Artikel in der Netherlands International Law Review veröffentlicht.
Was sagt der Kommentar zum Artikel 19 Absatz 49?
«Gesetze, die die Meinungsäusserung zu historischen Tatsachen unter Strafe stellen, sind unvereinbar mit den Verpflichtungen, die der Pakt den Vertragsstaaten hinsichtlich der Achtung der Meinungs- und Meinungsäusserungsfreiheit auferlegt.
Der Pakt erlaubt kein generelles Verbot der Äusserung einer falschen Meinung oder einer falschen Interpretation vergangener Ereignisse. Einschränkungen des Rechts auf Meinungsfreiheit sollten niemals verhängt werden … »
Als der Ausschuss diesen Kommentar annahm, war ich im Raum. Einige Mitglieder haben auf die deutsche Gesetzgebung hingewiesen, insbesondere auf die Verfolgung von Historikern, die eine andere Perspektive vertreten. Seinerzeit war die Frage der Zensur gegen RT noch nicht aktuell, sonst wäre sie damals genauso negativ beurteilt worden.
Das Verbot der russischen Sender ist doch schlichtweg Zensur.
Natürlich ist das Zensur und dazu noch eine schwere Beeinträchtigung der Demokratie, denn man kann nur dann demokratisch entscheiden, wenn man alle Fakten und alle Perspektiven kennt. Ansonsten wird man von der Obrigkeit manipuliert.
Man hat ein Menschenrecht auf Information. Meinungsfreiheit ist kein Luxus, sondern ein fundamentales Bürgerrecht, das auch im deutschen Grundgesetz enthalten ist. Man hat ein Menschenrecht, sich Informationen zu beschaffen, um sich eine ausgewogene Meinung zu bilden. Die deutschen Behörden agieren gegen fundamentale Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit, unter anderem «audiatur et altera pars» – auch die andere Seite muss gehört werden!
Volsständiges Interview: https://zgif.ch/2025/05/29/die-hetze-gegen-alles-russische-ist-einer-zivilisierten-gesellschaft-unwuerdig/
Interview mit Prof. Dr. iur. et phil. Alfred de Zayas, Völkerrechtler und ehemaliger Uno-Mandatsträger
Wer ist online?
Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 2 Gäste