Ein Text von Benjamin Kradolfer
Zugegeben: das Weltgeschehen an sich, so entsetzlich es sich auch entwickelte, hätte mir vermutlich gar nicht so furchtbar zugesetzt, wäre mir seine mediale Vermittlung nicht derart unerträglich geworden. Es war schon beinahe pervers, wie mich eine denkfaule Floskel eines Sesselhocker-Korrespondenten, ein Menschen miss-&-verachtender Kommentar zu massenmörderischen Normalitäten oder gar – ach, dies war vielleicht sogar am häufigsten und am heftigsten der Fall: – eine perfide Auslassung wichtiger Aspekte wütender machen konnte als das berichtete bzw. verschwiegene Grauen selbst. Und so befahl ich mir: Kaprizier dich auf deine Buch-Lektüre und halte dich dabei an die Klassiker aller Welt! Die haben zum Tagesgeschehen mehr und Wesentlicheres beizutragen als die Journaille-Spatzen, die von allen Dächern pfeifen.
Völlige Unberührbarkeit freilich, da mache ich mir keine Illusionen, ist schlicht nicht möglich. Wie im Sturm der ruhig feststehende Fels nicht trocken bleibt, da sich die eine oder andere Welle an ihm bricht, so mischt sich in meine Klassiker hinein immer mal wieder der eine oder andere zufällige Spritzer des allgegenwärtigen Wichtiiiiig!-Wichtiiiiig!-Geschreis, und das ist auch gut so: die Wucht des Anpralls zufälliger Wellen auf den Fels bietet ein Schauspiel, das uns zu Fels und Sturm etwas zu sagen weiss, und homöopathisch dosiertes Gift entfaltet heilsame Wirkung.
So erging es mir dieser Tage, als ich nach Jahren mal wieder meine Jugendliebe Bertolt Brecht vornahm. Welch hoch erbauliche Wiederbegegnung das war, u.a. mit dem Fragment gebliebenen Tui-Komplex – die (Wieder-)Lektüre sei hiermit allen empfohlen: Ich wüsste kaum etwas, in dem es zum grassierenden Experten-Unwesen auch unserer Tage Träferes zu finden gäbe, nicht einmal bei Karl Kraus. Davon angestachelt, kramte ich aus meinem Video-Archiv auch noch die 100-Jahre-Brecht-Gedenk-Sendung „Frühstück mit Brecht“ hervor, ausgestrahlt vom WDR am 10. Februar 1998, dem genauen 100sten Geburtstag des Meisters.
Bequem aufs Sofa geflähzt, führte ich mir also dieses mehr als ein Vierteljahrhundert alte TV-Dokument zu Gemüte und genoss das Potpourri aus Songs, Szenen, seinerzeit älteren und neueren Dokumenten, Erzählungen und Auslassungen der geladenen Experten (selbstverständlich waren solche auch dabei, aber immerhin scheinen die meisten wirklich vom Fach gewesen zu sein). Freilich war mir nichts davon neu, weil früher schon mal angeschaut und vieles damals schon bekannt. Nur einen Beitrag hatte ich vollkommen vergessen: eine etwa 10-minütige Reportage von einer (damals, 1998, laufenden) Aufführung der Hitler-Parodie Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui des Stadttheaters Haifa in Israel. Dieser „Frühstücks-Happen“ fasste mich an wie der Sturm den Felsen, irgendwann ertappte ich mich dabei, dass ich nicht mehr auf dem Sofa flähzte, sondern gespannt aufrecht sass:
Hitlers Aufstieg als „grosse historische Gangsterschau“ auf einer israelischen Provinzbühne! „Die berühmtesten Heroen unserer Gangsterwelt (...) erobern die Stadt Cicero“, im zweiten Weltkriegsjahr 1941 von Brecht angesiedelt in mehr oder weniger fiktiven (je nach dem), letztlich jedenfalls nach künstlerischen Massenstäben verfassten Vereinigten Staaten von Amerika! – Na wie passt das denn zur Welt von 1998? Und zur Welt von heute? Wie die Faust aufs Auge oder was?!
„Die Parabel“, so meldet der Beitrags-Kommentar gleich zu Beginn, „lässt keinen Zweifel daran, dass für Brecht der Faschismus die Fortsetzung der Geschäfte mit anderen Mitteln ist“. Und dann der Israelit Sinai Peter, Regisseur der Aufführung:
O-Ton Israel 1998... Für uns Heutige vielleicht aufschlussreich: „unser Premierminister“ war damals in Israel zwei Jahre zuvor gewählt worden und hiess – schluck! – Benjamin Netanjahu. Ja, tatsächlich von diesem und keinem andern Netanjahu ist in der 27 Jahre alten Reportage auch die Rede, als der Israelit und Hauptdarsteller Moshe Ivgi sein Interview gibt und, indem ihm seine Maskenbildnerin, ihr Tun unentwegt im Spiegel überprüfend, mit dem Schminke-Schwämmchen im Gesicht herumtupft, doch wahrhaftig sagt:„Mit diesem Stück versuchen wir zu warnen; ich glaube nicht, dass wir viel anbieten, aber das Beste, was wir anbieten können, ist, auf die Analogien in der Welt hinzuweisen. Wir sollten niemals behaupten, dass uns so etwas nicht passieren kann. (...) In dieser Produktion ist es mir sehr wichtig gewesen, jeglichen direkten Verweis zu vermeiden, es gibt keinerlei Nazikleidung oder Nazisymbole, und viele Zuschauer sind nicht auf die Idee gekommen, dass das Stück im Hinblick auf Hitler geschrieben worden ist; ich würde mich zwar wohler fühlen, wenn die Zuschauer die historische Assoziation verstünden, aber ich fühle mich auch sehr wohl angesichts der Tatsache, dass viele sagen: Oh, das ist ja tatsächlich unser Premierminister! und wenn ich ihnen dann erkläre, dass es ein Stück über Hitler ist, sagen sie: jetzt ist es noch viel beängstigender.“
Die damalige politische Situation in Israel bezeichnet der Beitragkommentar als „angespannter denn je. Unter dem Druck der Ultrarechten hat die Regierung den Friedensprozess mit den Palästinensern gestoppt; ein erheblicher Teil der Haushaltsgelder '98 fliessen in neue jüdische Siedlungsprojekte auf arabischem Gebiet. Von jeher hat in Israel die Macht, wer dem Volk die grösste Sicherheit verspricht. – Das Polittheater, das Arturo Ui auf der Bühne vor laufender Kamera noch probt, ist in Israel längst Realität geworden“, und zu einem Verschnitt von einschlägigen Szene-Ausschnitten des Posen übenden Ui und TV-Sequenzen mit israelischen Politeliten, die ihrem Anführer Netanjahu huldigen, konstatiert die Kommentar-Stimme:„Arturo Ui ist überall. In meinen Augen verliert Netanjahu die Kontrolle, er verkauft das Land an jeden, der ihn erpressen kann. Er hat nicht die geringste Idee im Kopf, irgendetwas, das irgendwohin führen könnte. Seine Hauptidee war es, an die Macht zu kommen, und als er die Macht dann hatte, wusste er überhaupt nichts damit anzufangen.“
Aus der Theatergarderobe wird dann auf sehr glaubhaft geschauspielertes Morden in Gangstermanier geschnitten, mit dem Kommentar: „Auf der Bühne baut Arturo Ui seine Macht aus, indem er ein Klima der Angst erzeugt und schürt. Während der Wahlkampf-Kampagne vor zwei Jahren zeigte das israelische Fernsehen Terroranschläge in Dauerwiederholungen“; Schnitt zurück zu Ui-Darsteller Ivgi:
„Ich habe Angst. Es ist wirklich beängstigend. Wenn wir in Amerika oder in Europa wären, hätten wir andere Probleme, aber hier sind wir im Nahen Osten, umringt von arabischen Ländern und Feinden. Wir haben so viele Probleme ausserhalb des Landes, so viele Probleme innerhalb des Landes – wir brauchen jemanden, der eine Vision hat in dieser schwierigen Stunde. Aber das, was wir hier haben, das ist... ich weiss nicht... so eine Art Mafia.“
Daraufhin ist zu hören und zu sehen, wie auf der Bühne Ui's Gangster das Publikum zum Mitsingen des berühmten Kanonensongs aus der Dreigroschenoper animieren: „Soldaten wohnen auf den Kanonen...!“, freilich in Neuhebräisch. Und als später Arturo Ui sich anschickt, die Witwe eines seiner Opfer, des Unternehmers Dullfeet, zu verführen wie Shakespeares Richard III, Prototyp des skrupellosen Politgangsters, die jüngst verkönigwitwet-gemachte Anne am Sarg ihres Königgemahls in der berühmt-berüchtigten 2. Szene des 1. Akts, tut er das unter hebräischer Verwendung der folgenden Brecht-Replik:„In der Inszenierung wird das Volk zum Claqueur einer korrupten Macht, die es nicht mehr abschaffen kann.“
(...fragt sich heute bloss, ob in unserem Jahrtausend Brechts Themen auf der Bühne die Menschen noch interessieren und diese Regierung noch zu einem Ende kommt.) „Am Ende“, so nochmals die Kommentarstimme, „verschwindet auf der Bühne Arturo Ui hinter der überdimensionalen Videowand mit seinem Konterfei“; und während wir vor dieser Szenerie seine Gangster strammstehen sehen, jeder eine Fernbedienung in der vorgestreckten Rechten, und im Hintergrund die entsprechenden Brecht-Zeilen in Neuhebräisch zu hören sind:„Sehr bittere Erfahrung lehrt mich, nicht als Mensch zum Menschen hier zu sprechen, sondern als Mann von Einfluss: Das Leben geht weiter, auch wenn uns ein Unglück zustösst. Der einzige und letzte Schutz, der Ihnen bleibt, bin ich“ –
– und, wie Anne, wird sie widerstrebend weich und gibt sich ihm hin zu innigem Kusse. Der Regisseur:
„Die Themen von Brecht werden bis zum Ende dieser Regierung immer auf unseren Bühnen bleiben. Denn Brecht verhandelt dort weit mehr als kapitalistische Strukturen, es geht ihm immer auch um Menschen.“
– Ob ihr's glaubt oder nicht: Sowas brachte der WDR anno 1998! Zu Israel! Mit links sozusagen, ohne dass einer Skandal! schrie, ja sogar anlässlich von so etwas wie einem gesamtdeutschen Nationalfeiertag! – Aber was soll'n das überhaupt? mag da der eine oder die andere einwenden; is ja alles so lange her, dass es schon gah nich mehr wah is! Und wahrscheinlich stimmt das ja auch. (...aber nix da mit gleich Anfangen zu recherchieren, was der WDR heute so bringt. Ich halte mich strikt an meine Diät. Sollen die andern doch.)„In seiner fulminanten Schlussrede verkündet Arturo Ui süffisant, den Kampf gegen den Terror überall aufzunehmen, und verspricht lächelnd Sicherheit für die Metropolen der ganzen Welt“, und weiter in O-Ton-Ui/Ivgi von der Bildschirmwand auf der Bühne: „Milwaukee, Washington, Detroit, Pittsburg, Philadelphia, Brussels, Paris, Berlin, Moskwa, Tokio, Tel Aviv...“
Wahr oder nicht: Das Zurückblicken lässt sich manchmal nicht vermeiden, ab und zu passiert es einem einfach – und is ja wohl letztlich auch minnessens so menschlich wie das Irren, nich wah? Und wenn's einem passiert, dann meint man halt manchmal schon ein bisschen, das stetige Vergehen der Zeit belehre einen hie und da eines Besseren und da oder dort seien Irrtümer auszumachen. Ein bisschen komme ich schon ins Grübeln, ob wir alle, inkl. WDR, Brecht-Fans & theater-verrückte Israelis, vor nur einer Generation nicht einfach noch furchterregend naiv waren, naiv in Bezug auf die Wirkmacht von Analogien und Menschen&Mächten und Künsten&Medien, sowie auf Faschismus&Kapitalismus, bezüglich der Gefahren von Antisemitismus&Gewalt&Terror, und natürlich auch hinsichtlich der Kraft der Demokratie, insbesondere der israelischen. Hat es nicht auch etwas Erhellendes, sich vorzustellen, wie weit unser Wissen von all dem seither fort-geschritten ist? Wie sehr z.B. ein Ministerpräsident Bibi Netanjahu sich in diesen bald drei Jahrzehnten gemausert hat: vom blutigen Anfänger, der von kritischen Landsleuten noch als hirn- und herzloser Mafia-Boss wahrgenommen wurde, zum herausragenden Exponenten der westlichen Werte!
Und wenn wir nicht gestorben sind, so leben wir noch heute alle glücklich miteinander und werden von Tag zu Tag klüger und klüger!
Und vor allem natürlich: immer sicherer – wie es uns der gute, alte Bibi schon immer versprochen hat!